Vom Bergell aus reisen wir zum Ofenpass. Vielleicht heißt diese Gegend so, weil hier im Mittelalter viele Hochöfen zur Gewinnung von Schwermetallen standen. Dazu habe ich Mitteilungen in Soglio gefunden.
Wir fahren wieder den Malojapass hoch ins obere Inntal:
Ober-Engadin. Da hat im Ort Maloja der italienische Maler Segantini gelebt ― „er hat auch mal ein paar Jahre in Savognin gewohnt,“ sagt Clarissa.
Das Bild vom Comer See von Giovanni Segantini, „Ave Maria traghettando il lago“ habe ich euch ja gezeigt. Doch wir haben sein Haus, das heute
sein Museum ist, nicht besucht.
Unsere Fahrt zielt auf einen
Pass über die Alpen, den Ofenpass oder Passo dal Forno. Kurz vorher kehren wir
für zwei Tage ein in der Hütte Varusch.
BILD 1: Postkarte Varusch Hütte
Und wandern für ein paar
Stunden das Varusch-Tal ― oder richtiger Val Trupchun ― höher, weit in eine
felsige Schlucht hinein. Das gehört hier ja zum Schweizerischen Nationalpark,
und wir begegnen einem Parkwächter, der uns sagt, es ist sehr gut, wenn wir
immer auf dem Pfad bleiben, doch wir dürften nicht von dem Pfad abweichen. Das
ist absolut geschütztes Gebiet, Naturschutz. Das entspricht sehr unseren
Naturschutz-Ideen und wir sagen ihm Dank für seine Fürsorge.
BILD 2: Schlucht bei Varusch
Auf einem felsigen Berg fast
über uns sehen wir wieder Steinböcke, und zwei fechten miteinander ― doch
abgestürzt ist keiner. Der Pfad ist sehr schmal, entgegen kommen darf einem
keiner mit Rucksck. Abends wieder bei der Hütte. Ein Blick nach oben, ein hoher
Bergkamm, und in langer Reihe ziehen wohl dreißig Hirsche auf dem Kamm entlang,
langsam, gemächlich, alle hinter einander. In der Hütte gibt es abends ein Glas
Wein, Veltliner Weißen.
Morgens
früh zurück ins Inntal gefahren und bei Zernez nach rechts in Richtung zum
Ofenpass. Diese Straße führt jenseits des Passes ins Vinschgau (Südtirol) und
schließlich nach Meran. Auf einer Karte erkennen wir einen Pfad zur Alp La
Schera, die aber nicht mehr bewirtschaftet wird, da sie nun auch zum
Nationalpark gehört. Doch rauf laufen darf man. Auf der Karte ist es der Weg
15. Wir nehmen uns viel Zeit. An Kiefernbüschen ranken Alpenreben (Clematis alpina) mit hell lila Blüten,
heller als bei uns zuhause im Garten. Schließlich kommen wir zur ehemaligen Alp
La Schera. Im Hintergrund der Munt La Schera, ein 2500 m hoher kahler Berg.
BILD
3: Munt La Schera. Das mag etwa von Westen von der Alp aus gemalt sein
(mit Ölkreide), ich weiß es nicht mehr.
Bald
wird es dunkel, doch wir glauben den Rückweg zu unseren Rollern leicht zu
finden. Im Dunkeln rennen ein paar Rehe vorbei, wir sehen nur die grell-weißen
„Spiegel“ am Ende des Körpers, wo bei anderen Tieren der Schwanz ist. Die Rehe
schreien erschreckt.
Auf
dem Rückweg zur Ofenpass-Straße, im Dunkeln, gehen wir doch einen falschen Weg
und finden unsere Roller nicht. Erst eine Wanderung von einer halben Stunde (2 ½ km) auf der
Pass-Straße führt uns zu dem Parkplatz, wo wir sie geparkt hatten. Eine Nacht im
Hotel am Ofenpass, ein wenig teuer für uns. Für die nächste Nacht finden wir an
einem abseitigen Weg außerhalb des Nationalparks eine einfache Blockhütte mit
einer Feuerstelle. Es wurde sehr rauchig in der Hütte, doch wir waren vor der
Gebirgskälte geschützt.
BILD 4: Das Gebiet des Schweizerischen Nationalparks
BILD 5: Rund um den Munt La Schera (2587 m): der größere Pfeil zeigt auf die Alp La Schera, der kleinere auf die Alp Buffalora.
Diese
Wanderungen im Val Trupchun und zur Alp La Schera (ich weiß nicht mehr, wie man
das alles ausspricht) sind das stärkste Erlebnis meines Körpers auf dieser
Reise, mit den Anstrengungen auf dem Schotter, denn die Wege waren damals ― 1953 ― nicht so bequem für städtische Füsse hergerichtet wie heute,
auch fast ohne Wegweiser. Vielleicht gab es damals auch mehr zu sehen: die
genannten Groß-Tiere, Kolkraben, Steinadler, Alpensalamander, auch die
besondere Alpenflora, die Felsen und die Wasserstürze ― und noch vieles, das ich hier nicht
erwähnte ―, und wir blieben oft stehen.
Also am nächsten Tag die Alp Buffalora, sie liegt eben außerhalb des Nationalparks, Richtung
Italien. Vom Ofenpass aus fahren wir dahin. Die Alp liegt neben der Alp La
Schera. Man kann von einer zur anderen wandern. Doch mit all unserem
Gepäck, Zeltbahnen und so fahren wir besser. Hier sind viele Kühe, die
typischen, hübschen grauen Alpen-Kühe, die ich bei mir „Eselskühe“ nenne, weil
sie so eselsgrau sind.
In
der Nähe der zwei Häuser dürfen wir unser Zelt aufbauen. Und am
Brunnen dürfen wir uns waschen. Nur, wir sollen keine Seife benutzen, das würde
das Wasser verschmutzen. Unten seht Ihr ein paar Fotos von der Alp. Sie sind
von einer Frau, die sie in ihrem Rucksack hatte und uns als Postkarten
verkaufte. Sie hatte auch ein Zelt mit, doch sie baute es an einer etwas
versteckten Stelle auf, denn sonst würden die Kühe kommen und sich daran
schuppern und es einreißen, sagt sie. Na ja, mal sehen, wie es uns mit dem frei
stehenden Zelt ergehen wird. Es ist ja klein, nur zum schlafen, und wir können
es am Morgen zusammenpacken für den Tag über.
Bei
den Sennen können wir frische Milch bekommen, und dürfen auf der Feuerstelle
kochen. Mittags kamen wir an, und später kam ein kleiner, grauer Lieferwagen
und brachte einiges Wandergepäck für eine Gruppe von Schülern, die schon auf
dem Weg vom Ofenpass her waren. Es sind einundzwanzig Jungen mit zwei Lehrern ― Frau und Mann ― aus
einem privaten Internat aus der zentralen Schweiz, aus der Umgebung von Zürich.
Sie waren alle recht altmodisch gekleidet, wohl eine Art Schul-Uniform. Wir
hören, die Schule gehört zu einer kleinen religiösen Konfession, aber nicht
katholisch oder protestantisch. Die Buben sind zwischen 10 und 15 etwa. Sie
teilen sich in drei Gruppen von 7 Jungen, der größte ist der jeweilige
Gruppen-Anführer.
Das
Besondere ist ihre Schulkleidung, speziell zum Wandern: zum Teil Leder-, zum Teil schwarze Cordhosen. Und oben Pullover
und Windjacke, ziemlich einheitlich. An den Beinen tragen sie Strümpfe, die das
ganze Bein bedecken, lang wie das ganze Bein, braune oder graue. So wie Clarissa und ich auch ― unter unseren Kleidern. Die Jungen bauen sich ein großes Zelt auf, eine
Art Kothe, in dem alle schlafen. In dem Zelt machen sie vorsichtig ein
Feuerchen in einem kleinen Ofen, der Rauch strömt an der Spitze raus. Wie die
Sonne unter geht, singen sie ein paar Lieder. Bald kriechen sie in Decken
gehüllt in ihre Strohschütte, die sie von den Sennen bekommen haben.
BILD 6: ein paar der Schulbuben
Mond in der Nacht, nun sieht die
Umgebung anders aus, eben Mond-beschienen. Leise hören wir die Kühe
wiederkäuen, sie liegen gemütlich in großem Kreis um das Haus und unsere
Lagerplätze. Vor dem Haus ist eine Tränke, in der wir uns waschen.
Am Morgen stehen Clarissa und
ich vor Sonnenaufgang auf, und einige der Buben sind auch schon da. Später
stehen sie alle um die Tränke herum, um sich zu waschen. In ihrer Unterwäsche,
und den Oberkörper frei gemacht ― bis auf die Leibchen der Kleineren, an die
ihre Strumpfhalter angeknöpft sind. Die größeren Buben tragen eine Art
Strumpfhaltergürtel für die Strumpfhalter ― wie sie bei uns eher von Mädchen
getragen werden (als Junge hatte ich aber ab und zu auch einen).
Zwischendurch ziehen sie kurz
ihre Unterhosen runter, um sich dort zu waschen ― alles wie gesagt ohne Seife,
nur mit einem kalten, nassen Lappen. Das Wasser läuft dauernd nach ― aus einer gefassten Quelle weiter oben am
Berg. Aus dem Becken der Tränke läuft es über und weiter unten auf eine Wiese,
von der es in einen Bach tröpfelt. Ab und zu kommt eine Kuh und trinkt ― zum
Spaß der Buben, die kreischen und einander spritzen.
Am Tag wandern alle umher, einige der Buben
haben ihre Strümpfe runter gerollt, über oder unter die Knie, wegen der Wärme.
Die Lehrer legen großen Wert darauf, daß keine Blumen gepflückt und keine Tiere
gescheucht werden.
BILD 7: Mondraute (Bild aus dem Internet)
In einem klaren Bachbett
kriechen ein paar Larven der Köcherfliegen. Nach drei Tagen reisen alle wieder
ab, Clarissa und ich auch.
Nach der rauchigen Nacht
besuchen wir noch das tirolische, befestigte Städtchen Glurns ― auf italienisch
Glorenza ― vom den ich ein Bild von oben male. Wir fahren noch bis an die italienische Grenze und
kurz ins Vinschgau bis wir unten die Stadt Glurns sehen, die ich male:
BILD 9: Glurns/Glorenza
Rückfahrt über den Flüela-Pass.
Clarissa ist bald zuhause, ich fahre in einer Dreitagesreise nach Bremerhaven,
wo ich mich für Meeresexpeditionen vor bereiten will ― doch dann bekomme ich
die Polio und muss erstmal für ein Jahr aussetzen (siehe hier: http://verantwortung-fuer-mein-leben-polio.blogspot.de/2012/09/meine-polio.html ).
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