Samstag, 9. Mai 2015

Zweitens - im Bergell


Zweitens Wir wandern im Bergell

(Erstens steht "Ich wandere mit der schwarzen Clarissa über die Alp d`Err" im ersten Post - siehe rechts)
(Drittens - kommen ein paar gemalte/gezeichnete "Bilder aus dem Bergell" - siehe rechts)
(Viertens - "Alp La Schera und Alp Buffalora")




Nachdem wir viele Alpenblumen gesehen haben, ist es so viel, daß ich trotz Alpen-Bestimmungsbuch recht verwirrt bin. Da sagt Clarissa, „es gibt eine Steinbrech-Art, die wird von den Botanikern Saxifraga cotyledon genannt, Pracht-Steinbrech. Vor ein paar Jahren war ein Botaniker aus Genf bei uns und hat vom Hotel aus eine Reihe von Exkursionen in das alpine Graubünden gemacht. Er suchte nach diesen Pflanzen und sagte, in den meisten Büchern ist diese Art nicht erwähnt. Er sah in das Buch, das die Sennen haben, von Professor G. Theobald aus Chur, „Naturbilder aus den Rhätischen Alpen“ (veröffentlicht in Chur 1862). Da fand er eine Bemerkung auf Seite 218 (Clarissa hat das in ihr Alpenblumenbuch notiert): imTal der Albigna (im Bergell, ganz in der Nähe von Vicosprano) geht er über eine Brücke und beobachtet, Mit unglaublicher Schnelligkeit eilt der wilde Bergstrom in wiederholten Fällen der Ebene zu, ein lebhafter Luftzug begleitet ihn; auf der Brücke wird man von dem aufspritzenden Schaum benetzt, aber über die weissschäumende Flut hängen die dunklen Aeste der Tannen, die lange Blütenrispen der Saxifraga cotyledon nicken und schwanken in dem beständigen Thau, der sie ernährt. Man übersieht hier die ganze Länge der zahlreichen Fälle und Stromschnellen bis zu dem grossen Fall, dessen senkrechte Wände das Landschaftsbild schliessen.

Und Clarissa will mit mir dahin fahren. Nach ein paar Tagen auf der Alp d´Err reisen wir – noch immer mit unseren zwei Rollern – den Julierpass hoch, die engen Kehren bis die Straße weiter oben breiter und grader wird. Oben steht kein Wald mehr, nur noch einzelne Lärchen und Zirbelkiefern.



Bild 28: Alte Zirbelkiefer und einige Lärchen am Julierpass,
dieses Foto habe ich ein paar Jahre später mal gemacht.


Vorher sehen wir etwas oberhalb am Hang ein altes Gehöft, das unbewohnt ist. Wir gehen hinauf und sehen noch die Nutzung der Ställe vor kurzem für´s Vieh. Das Besondere ist: wo Mist gelagert ist und Jauche aus dem Stall den Hang hinunter fließt, hat sich ein Gebüsch von blau blühenden Eisenhut-Stauden (Aconitum napellus) angesiedelt. Ein sehr schönes Bild, am liebsten hätte ich das gemalt, doch mein Können reicht nicht aus, dafür ein Bild aus Rumänien von Florafreak (Flickr):




Bild 29: Aconitum napellus, Foto bei Flickr, 
von Florafreak, Standort in Rumänien, die 
Blütenzweige am Julier waren länger.


Eisenhut ist sehr giftig, später höre ich, diese Art soll das giftigste Kraut sein, das sich in Europa findet. Na ja, wir berühren sowieso nichts und achten diese kräftige Waffe dieser Art, sich zu erhalten. Und werden belohnt durch die Schönheit.

In späteren Jahren fahre ich diese Strecke noch einige Male, und da enstand auch das Foto der alten Zirbelkiefer. Unten gelangen wir ins Engadin bei Silvaplana, wo es den obersten Lauf des Flusses Inn mit einigen Dörfern und Städten gibt. Wir fahren gleich weiter flussaufwärts und finden den Ort Maloja, wo der Maler Segantini gewohnt hat. „Er lebte auch für acht Jahre in Savognin“. Ich mag das folgende Bild seit Langem, ich glaube, es entstand am Comer See, der nicht weit von hier in Italien liegt.



Bild 30: am Comer See von Giovanni Segantini,
"Ave  Maria  traghettando  il  lago"


Wir sehen uns aber nichts von seinen Stätten an. Statt dessen finden wir den Beginn des Bergell, oder Bregaglia auf Italienisch. Im Bergell sprechen sie italienisch – auch deutsch. Hinter dem Dorf  Maloja ist der Maloja-Pass, von dem schon meine Eltern geschwärmt haben. Eigentlich ist das kein üblicher Pass sondern eine Felsstufe, an der die neue Straße in vielen Windungen nach unten führt. Wir halten und sehen uns dieses Wunderwerk der alpinen Gletscher an. Bleiben gewiß zwei Stunden hier. Am oberen Rand steht ein Turm. Die Felsstufe soll 350 m hoch sein.

Am Rand der Felststufe stehen wir und sehen tief ins Bergell, unten liegt am Fluß Maira das Dörfchen Cavril. „da unten,“ sagt Clarissa, „auf den Schottern des Flußufers hat mal ein Freund von mir mit einer Freundin zusammen gesessen und alles bewundert, die Liebe, die bunten Blumen, die im Schotter blühten, den reinen Fluß, die Berge  . . .  und die Liebe.“

„Hier zwischen den Kiefern zeige ich dir eigenartige, rund Löcher im Fels, sogenannte Gletschermühlen.“ Tatsächlich, da sind diese Löcher, manche drei Meter im Durchmesser, die meisten kleiner, und bis zu einigen Metern tief. Clarissa sagt, „die Geologen haben gefunden, daß dieses hier mal eine Art Fallstufe für einen Gletscher war. Wie ein Wasserfall in ganz langsam. Und damit muß das zusammenhängen.“

In späteren Jahren habe ich über Turbulenzen (Verwirbelungen) im Wasser geforscht, und da fiel mir ein, diese Gletschermühlen, in denen ein paar runde Steine liegen, sind durch die langsamen Turbulenzen des Gletschereises entstanden: das fließende Eis hat die Steine genommen und damit die Löcher gebohrt und ausgeschliffen – so ungefähr. Ich zeige hier ein paar Bilder zu diesem Thema. Sowohl die Steine als auch die Wände der Mühlen haben Kratzer, die durch die Bewegungen erzeugt wurden.




Bild 31: Gletschermühle, A-A = 2 bis 3 m Durchmesser, wir sehen in das Loch, 
unten steht Wasser. Mehrere Bohrungen überschneiden sich.



Einmal habe ich einen Tropfen Tinte (die aus schwebenden, sehr kleinen Teilchen besteht) auf eine Wasserfläche fallen gelassen und beobachtet, was sich in den folgenden Sekunden bildete, seht das Bild 32. So ähnlich mögen auch die Verwirbelungen im fließenden Eis geschehen sein.


Bild 32: Turbulenz im Wasser, 
Tintentropfen im Wasserglas, nachher 
abgezeichnet




Bild 33: Turbulenz im Bach bei Soglio,
das Wasser formt wirbelnd diesen weichen Fels.





Bild 34: sehr langsame Turbulenz im Felsen




Bild 35: sehr langsame Turbulenz im Fels,
vergilbtes Maronen-Blatt und abgefallene männliche Maronenblüten



Bild 36: Nessel-Seide, Cuscuta europaea, bei Soglio,
wächst auf Brennessel  ist das auch eine


Art von Turbulenz?


Dann fahren wir die Maloja-Passstraße hinunter ins Bergell, aber es wird Abend, und wir fahren hinauf in ein Seitental und übernachten in einer unbenutzten Hirtenhütte, wo eine Feuerstelle ist, auf der wir es uns warm machen. Am Morgen fahren wir talwärts nach Bondo. Doch bei Vicosoprano sehen wir in das Albigna-Tal hinein und denken, hier die Saxifragen zu finden. Doch hier wird gerade heftig gebaut, wie  wir hören, wollen sie da oben einen Staudamm bauen – eben oberhalb des großen Wasserfalls, den Professor Theobald beschrieb, „... dessen senkrechte Wände das Landschaftsbild schließen.“ Oben auf diese Wand wird die Staumauer gesetzt. Das ist uns zu unruhig, wir fahren weiter und besuchen im Dörfchen Bondo die Kirche. Da sind mittelalterliche Gemälde an den Wänden. Hier ein Foto von innen:



Bild 37: Die kleine Kirche San Martino in Bondo,
innen Wandgemälde aus dem 15. Jahrhundert.
Das Bild aus dem Internet ist leider unscharf 


Wir wundern uns über die Dinge, die die Apostel während des Abendmals essen: Krebse und sowas.

Unter der Bank finden wir einen Zettel, handbeschrieben, wohl aus einer Tasche gefallen. Gedichte:

13
Du läufst durch die ganze Welt
– reisen, lesen, schauen –
aber du bleibst allein mit deinem Erleben.

doch plötzlich ist jemand da:
„du hast so viel zu geben, daß du schon fast überläufst“
Ist das nicht ein glücklicher Lohn?


15
Wir trafen uns zwischen den hohen Bergen;
der Piz Badile – hart und scharf wie ein Messer, aus Granit –
war Zeuge unserer Liebe
(oder eher ihres zaghaften Beginns).
Er steht unerschütterlich;
aber wir ließen uns erschüttern –
weich, wie Lebendiges eben ist,
und Liebendes eben ist.


16
„Das Kirchlein von Bondo birgt
ein schönes Geheimnis“;

Mittelalterliche Bilder an den Wänden,
ausgegraben aus zentimeterdicken Putzschichten
– so wie unsere Liebe aus zentimeterdicken, alten Eheschichten.

Es standen da noch viel mehr Gedichte, zum Schluß noch dieses:


9
Ich hab´ dich verstoßen aus meinem Leben,
um die alte Freundschaft, die Treue,
und die Ordnung, und die Sicherheit
zu retten.

Aber du bist noch da; täglich, immer  . . . .
auch ich träume zwar nicht des Nachts von dir,
doch am Tage bist du mehr hier als alles andere,
– als alle anderen,
– und das schon seit Monaten!



– ein Liebesabschied, oder? Und dann stand da noch, „Rosmarie, ich liebe dich.“

Es berührt uns sehr, und Clarissa legt ihren Arm um mich und küsst mich unter Tränen. „Welche Tragik und Trauer da wohl war?“



Bild 38: das Kirchlein von Bondo von außen,
auch hier noch ein paar Bilder aus dem 15. Jahrhundert.
Das Foto fand ich im Internet.


Oberhalb von Bondo liegt das Dörfchen Soglio. Dort nehmen wir ein Zimmer im  Häuschen der dritten Zeichnung in der Sammlung Drittens - Zeichnungen aus dem Bergell. Wir wollen von hier aus die Prachtsteinbreche suchen. Und anderes. Und sehen uns am Morgen eine sehr detaillierte Karte an. Wir wandern in der Nähe des Dorfes umher und kommen zu einem Wasserfall, an dem viele Arten von lebendigen Turbulenzen zu sehen sind. Die Fotos 33 bis 36 stammen von diesem Rundgang, 33 von diesem Wasserfal.

Ich male ein paar Ansichten, und am meisten male ich die gegenüberliegende Fels- und Bergkette. Da ist der Piz Badile, der schon in dem Gedicht erwähnt war. Wir hatten den Zettel mitgenommen, weil er uns verloren, verschmutzt und verlassen vorkam.

Am nächsten Morgen stehen wir noch früher auf als meistens und fahren auf die andere Seite des Tales in die Bondasca-Schlucht. Das ist nun wirklich eine Schlucht, eng und mit tosendem Wasser. Eine Waldstraße geht weit hinein in dieses Tal, und hoch hinauf, ich glaube bis an die Sciora-Hütte. Wir fahren diese Straße, bis wir, noch am Anfang des Tales, an eine Brücke kommen. Hier ist es so wie der Professor Theobald das vor 120 Jahren über seine Wanderung in die Albigna-Schlucht beschrieben hat. Sie liegt nur wenige km entfernt von der Bondasca-Schlucht, ein Parallel-Fluß sozusagen:

„Mit unglaublicher Schnelligkeit eilt der wilde Bergstrom in wiederholten Fällen der Ebene zu, ein lebhafter Luftzug begleitet ihn; auf der Brücke wird man von dem aufspritzenden Schaum benetzt, aber über die weissschäumende Flut hängen die dunklen Aeste der Tannen, die langen Blütenrispen der Saxifraga cotyledon nicken und schwanken in dem beständigen Thau, der sie ernährt.“ Ja, und hier sehen wir die Prachtsteinbreche nun auch. Unter und neben der hohen Brücke wachsen sie an den steilen und düsteren Felswänden, weit entfernt von jeder menschlichen Hand, „wohl bewahrt vor der verlangenden Hand (dass der Naturschutz-Gesellschaft um deren Erhaltung nicht bange zu sein braucht)“, wie wir in einer anderen Schrift finden.


 

Bild 39: Saxifraga cotyledon im Aostatal,
im Web gefunden, ich danke dem Fotografen


Unter der Brücke des Bondasca-Baches wurzeln die Pflanzen in Fels-Spalten, ganz allein.

„Das ist ja ein prächtiger Name, „Saxifraga“ = Felsbrecherin, cotyledon = Keimblatt, doch wieso dieser Name?“ Wir lassen die Roller hier stehen und gehen zu Fuß die Straße weiter. Bald wird der Wald dünn und hört dann ganz auf. Wir finden ein halbes Meter hohe, blaue Blumen, „Milchlattich nennen wir die, Mulgedium alpinum.“ Die hatte ich schon mal im Schwarzwald gesehen, bei Titisee. Wir kommen in eine weite muldenartige Fläche, die sich nach oben in Eis und Schnee und Felsberge ausdehnt, die Sciora-Gruppe, ausdehnt, dazwischen Weiden und ein Haus, die Sciora-Hütte, und rechts der dolchartige Piz Badile.

Am nächsten Tag besuchen wir das Grenzdorf Castasegna, wo wir übernachten. Hinter der Grenze nach Italien kommt das Städtchen Chiavenna und danach der Comer See, dort führt Clarissa uns 50 km weiter südlich zur sehr edlen Villa Carlotta in Tremezza, ein schlossartiges Hotel und Museum, wo wir Stunden lang viele schöne Skulpturen bewundern, und besonders „Amor und Psyche“, von Antonio Canova um 1800 geschaffen. Später höre ich, daß es ein anderes Stück im Louvre ín Paris und eines in der Eremitage in St. Petersburg gibt.





Bild 40: „Amore e Psyche“ von Antonio Canova nach dem 
Roman „Der Goldenen Esel“ von Apuleius.
Auch dieses Foto ist aus dem Web, denn 
mein eigenes ist mir verloren gegangen.


Vom Comer See fahren wir zurück nach Castasegna und am nächsten Tag wieder rauf nach Soglio, wo wir drei Tage bleiben und in der Umgebung umherwandern. An der Straße, die wir nach oben nach Soglio fahren, sind Wälder von Maronenbäumen, eher Plantagen, denn seit alter Zeit ist das die wichtigste Einkunft der Soglio-Leute, auch Ziegenkäse. Da ist ein Ziegenkäseladen, den zwei Basler unter dem Namen Lateria führen. Wir zeigen der Frau die gefundenen Gedichte, und sie schreit vor Freude auf, denn ein geliebter Freund hatte sie geschrieben, er hatte sie wohl verloren, als sie mal zusammen in dem Kirchlein saßen.

Gezeichnete Bilder aus Soglio und Castasegna findet Ihr unter  Drittens - Zeichnungen aus dem Bergell (seht rechts oben auf der Seitenleiste)

Auf dem Weg zurück nach Savognin besuchen wir – noch im Bergell – das Grab von Alberto Giacometti im Dörfchen Borgonovo, der große Bildhauer, er hat sich selbst auf der Grabplatte dargestellt, und Clarissa meint, „den Stil hat er den Bergen über seinem Dorf abgeguckt, dem Bondasca-Kamm von dieser Seite aus gesehen., von der Nordseite.“




Bild 41: Das von Alberto Giacometti für sich selbst geformte 
Grab in Borgonovo




Bild 42: Der Bondasca-Kamm von Borgonovo, von Osten 
aus gesehen - Giacometti´s Anregung?


Am Julierpass besuchen wir noch mal die Eisenhut-Pflanzen neben dem alten Stall und sind abends wieder im Hotel Pianta. Ein paar Jahre später schenkt mir ein Freund das Buch von Professor Theobald – so viele Jahre nachdem es gedruckt wurde!


Den ersten Teil meines Graubünden-Berichtes seht Ihr hier: Erstens - im Julier-Gebiet:
http://savognin-b-1953.blogspot.de/2013/05/erstens-im-julier-gebiet.html .




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